Tom B. (Name geändert) ist 43 Jahre alt und wohnt in Erfurt. Er ist Gast im Caritas-Tagestreff in der Regierungsstraße und arbeitet dort in der Suppenküche. Seit einigen Monaten lebt er in seiner eigenen Wohnung. Für ihn ein echter Neustart, nachdem er zwei Jahre lang auf der Straße gelebt hat. Sein Traum: Endlich wieder auf eigenen Beinen stehen und mit einem Job vom Sozialsystem wegkommen.
Wie sind Sie zum Caritas-Tagestreff gekommen?
Das erste Mal zur Caritas bin ich 2017 gekommen. Da lief aber in meinem Umfeld noch alles relativ gut. Mir hat ein Kollege erzählt, dass man hier relativ günstig essen kann, wenn man mit seinem Geld zuhause nicht richtig klarkommt. Und auch, dass man hier Menschen hat, die einem bei formellen Sachen helfen, wenn man die von zuhause aus nicht schafft. Gerade, wenn es um Post von Ämtern geht oder vom Gericht.. Damals hat mich eine Mitarbeiterin der Caritas hier unterstützt. Ich hatte gerichtliche Probleme und seit mehreren Monaten zwei Haftbefehle offen, weil ich zu oft schwarz gefahren bin. Da gabs dann einen Austausch mit der Staatsanwaltschaft und mit mir, und dann bin ich die zwei Haftbefehle erstmal wieder losgeworden. Sie sind dann direkt abgewandelt worden in Sozialstunden, die ich dann hier im Tagestreff machen durfte. Das war 2017, da bin ich in der Suppenküche vom Gast zum Mitarbeiter geworden und habe hinter dem Tresen angefangen, habe Einblicke in die Arbeit bekommen.
Ist es am Anfang nicht eine große Überwindung zu den Mitarbeitern der Caritas zu gehen und mit ihnen über die eigenen Probleme zu sprechen?
Viele können gar nicht. Viele wollen es auch gar nicht. Es gibt ja auch viele Obdachlose hier in Erfurt, die wohnen freiwillig draußen, haben irgendwo eine Nische unter der Brücke oder irgendwo, weil die einfach keinen Kopf mehr für das Sozialsystem haben. Die haben in den letzten Jahren von sich aus so abgeschlossen, dass sie sagen: Sie haben keinen Bock mehr auf die ganze Verwaltung. Da kommt auch keine Post mehr zu denen. Die lassen sich ja nichts mehr zu Schulden kommen.
Wie sind Sie in die Obdachlosigkeit gekommen?
2021 war ich in der alten Parteischule, nachdem ich aus meiner Wohnung geflogen bin. Ich hatte bei meinem privaten Vermieter 340 Euro Schulden und dann eine Räumungsklage bekommen. Der wollte mich raushaben. Ich glaube nicht, dass das alles so korrekt war.
Er hat dann auch dafür gesorgt, dass ich die Wohnung verlasse. Ich konnte mich nur noch um jemanden mit einem Transporter kümmern, der mir meine Sachen einlagert, damit nicht alles wegfliegt.
Danach hat es erstmal drei, vier Monate gedauert, bis ich in der Parteischule angekommen bin. Die Parteischule war damals unsaniert und man konnte sich ziemlich einfach ein Appartement anmieten, auch wenn die Verwaltung ein bisschen fies zu uns war. Dort waren auf 8 Etagen jeweils 30 Wohneinheiten. Immer so circa 12 Quadratmeter mit einem angeschlossenen Bad, auf jeder Etage eine Gemeinschaftsküche, die je nach Zustand auch nutzbar war. Ich war dort ein Jahr lang Teilnehmer. Danach wurde das ganze ziemlich schnell beendet mit dem ganzen Haus. Die hatten wohl jemanden, der sich nach der Sanierung einmieten wollte. Da sind 240 Leute raus. Direkt zu Weihnachten gekündigt und an Silvester sollten sie alle raus sein. Und das während Corona im Winter. Und dann steht man auf der Straße. Das geht ganz schnell. Und meine ganzen Möbel war ich auch los. Meine Kaution von 350 Euro habe ich auch nicht komplett wiederbekommen. Ich habe es noch bis März rauszögern können. Ich habe versucht, noch etwas zum Wohnen zu finden, aber es ging nicht. Dann stand ich auf der Straße. Mit 240 anderen Leuten.
Bis zu diesem Schluss in den letzten Monaten haben sich dann auch noch 3 Leute aus unserem Haus das Leben genommen. Sie sind aus dem Fenster gesprungen. Die waren schon ein bisschen älter, wussten auch nicht, was sie danach noch machen sollen.
Ich hatte da eine Hand voll Leute, die zuhause auch immer wenig Hilfe brauchen. Also was deren Wohnungsführung angeht, wenn sie deren Kinder daheim haben oder irgendwas. Da war das schon ein gutes Geben und Nehmen. Von März 2021 an ging das so das erste Jahr lang ziemlich gut. Bis dann einige meiner Bekannten eine neue Freundin kennengelernt haben, die dann auch mit zu Hause war. Da musst man dann schonmal das Feld räumen, weil man das fünfte Rad am Wagen ist. Ich habe also meine Jungs gefragt, ob die irgendwas wissen. Und die haben mich direkt mitgenommen in den alten Schlachthof. Dort haben wir es uns dann eingerichtet.
Zu der Zeit waren es nur sechs, sieben Leute, die dort gelebt haben. Mittlerweile sind es viel mehr geworden. Russen, Polen, bunt gemischt, was da hinten alles vertreten ist. Viele von ihnen kommen auch tagsüber in den Tagestreff.
Wie kann man sich vorstellen, wie das abläuft im Alltag?
Die meisten da hinten im Schlachthof haben versucht, Nischen zu finden, in denen man eine Tür dran hat und die verriegeln kann. Die meisten haben nur das nötigste zum Überleben. Wenn die mal ein Radio haben, ist das eigentlich immer den ganzen Tag über am Mann. Die wertvollsten Sachen hat man eh den ganzen Tag über dabei. Man muss also nur damit rechnen, dass mal jemand neugierig ist und im schlimmsten Fall auf die Matratze pisst. Das kommt nicht selten vor. Auch, dass mal jemand etwas anzündet. Das finde ich einfach nur respektlos. Schwer zu begreifen, was da in den Menschen vorgeht. Manche machen auch die Fenster kaputt. Dann gibt es halt Durchzug. Dann wird es schwer, eine Ecke mal warm zu bekommen.
Und Sie waren jeden Tag hier im Tagestreff?
Genau. Wir sind jeden Morgen hier her. Erstmal den Tag beginnen, was essen, was trinken. Schauen, ob man mit den Sozialarbeitern unten im Haus etwas klären kann. Irgendwann im letzten Jahr wurde ich dann gefragt, ob ich Lust daran habe, an einem neuen Projekt teilzunehmen, das hier in Erfurt startet.
Wie lief das ab?
Das war eher zufällig. Das Projekt lief gerade an und ein Kollege hier aus dem Tagestreff, den kenne ich schon ziemlich lang, war mit dabei. Wir haben uns ziemlich gut angefreundet. Er hat dann meinen Namen eingeworfen. Das war für mich eine große Überraschung. Ich war neugierig. Bei den Mitarbeitern der Caritas wusste ich aber, dass sie sehr kompetent sind. Da hatte ich eigentlich schon großen Optimismus und wusste, dass ich auch beim Wiedereinstieg, in der ersten Zeit mit einer neuen Wohnung, gut betreut werde.
Wie lang hat es gedauert bis Sie dann in Ihre neue Wohnung eingezogen sind?
Vom Projektbeginn bis zum Einzug ging es ziemlich zügig. Also ein oder zwei Monate. Die Caritas hatte da schon Vorerfahrung. Mein Kollege im Projekt ist einen Monat vorher eingezogen. Hätte ich das allein versucht, ohne Caritas, hätte ich bestimmt ein halbes Jahr oder länger gebraucht. Allein schon herauszufinden, welcher Antrag als nächstes gestellt werden muss. Das ist kompliziert. Mit der Hilfe durch die Caritas hier, war das perfekt. Ich weiß auch, dass ich die nächsten zwei Jahre abgesichert bin. Ich kann mit meiner Post in den Tagestreff kommen, kann das mit jemandem zusammen machen.
Als das mit der Wohnung dann ernst wurde, hatte ich aber wieder Probleme mit dem Gericht. Da waren ein, zwei Sachen offen. Zum Beispiel 200 Sozialstunden, die ich in der 4 Obdachlosigkeit nicht geschafft habe. Da war ich kopfmäßig einfach antriebslos und konnte mich nicht darum kümmern. Die Richterin hatte aber von dem Projekt gehört, das ich gerade starte und hat mich dann auch mit zwei blauen Augen nochmal davonkommen lassen und mir die Möglichkeit gegeben, in die Wohnung zu gehen. Das war ganz knapp vor der Haft.
Wie war das dann, als Sie die Wohnung bekommen haben?
Das war einfach eine zweite Chance. Gerade für mich als Bewährungsversager. Die ersten paar Tage in der Wohnung waren seit langem mal wieder richtig angenehm. In den vier Jahren davor konnte ich mich nicht mal frei duschen oder mal irgendwie ein paar Stunden meine Ruhe haben. Das Leben wieder in einer Wohnung: Das war wieder ein sehr angenehmes Gefühl. Ist es immer noch. Mit leeren Händen in eine Wohnung? Ohne Möbel? Ein paar Sachen waren schon da. Und ich habe beim Arbeitsamt einen Antrag auf Wohnungserstausstattung gestellt. Das hat die ersten drei, vier Monate gereicht, um schnell und vernünftig an eine gute Einrichtung heranzukommen. Und mit vielen Spenden, Unterstützung aus der Caritas, der Kleiderkammer und den Mitarbeitern hier, haben wir es geschafft, dass meine Wohnung echt wohnlich ist. Mit Fernseher und Kaffeemaschine. Dass ich morgens nach dem Aufstehen einen Kaffee trinken kann, das ist schon besser so.
Und Sie kommen weiter hier in den Tagestreff?
Ja, ich habe die Maßnahme angenommen. Das gehört dazu. Mit der Arbeit hier in der Suppenküche habe ich meine Sozialstunden abgearbeitet. Ich habe noch die Bewährung, aber die Strafe ist auf "Null". Nur deshalb hatte ich die Möglichkeit, auch hier in eine Arbeitsgelegenheit hereinzukommen. Ich arbeite jetzt also bis Dezember erstmal in der Suppenküche und dann können wir noch mal überlegen, ob ich diese Arbeit verlängere oder ob ich bei einem anderen Angebot der Caritas anfange.
Mit dem Geld wird es jetzt auch langsam angenehmer, weil ich zwei Mal im Monat Gehalt bekomme. Also die 500 Euro gesplittet. Da muss ich nicht immer bis zum Ende des Monats gucken, ob es reicht, sondern kann ein bisschen lockerer rechnen. Und über die Suppenküche bin ich auch gut verpflegt. Das spart viel Geld für zu Hause. Da kann ich den Kühlschrank auslassen – und auch Strom sparen. Das ist ja einer der Hauptstromfresser. Bis jetzt läuft es ganz gut. Ich freue mich auch auf die nächste Zeit. Mal schauen, wie es dann weiter geht. Ob ich vielleicht auch noch einmal in eine richtige Arbeit komme. Wenn das noch geht. Auch körperlich, nachdem ich mir vor zwei 5 Jahren das Genick gebrochen habe. Da muss ich auch schauen, was da noch körperlich verkraftbar ist.
Was ist denn passiert?
Es war im Januar, da habe ich mich mit meinen Jungs auf dem Anger getroffen. Da war so einer dabei, der Tabletten nimmt. Bei meinem zweiten Bier wollte er etwas davon abhaben. Ich vermute, dass er mir dabei eine halbe Kapsel mit ins Bier geschmissen hat. Bei vollem Bewusstsein bin ich auf mein Fahrrad aufgestiegen und bin nicht mal ganz runter gekommen vom Anger, in Richtung Wenigemarkt, da bin ich bewusstlos vom Fahrrad zusammengesackt. Dann bin ich im Krankenhaus wieder wachgeworden. Die Ärzte haben mir gesagt, ich solle keine ruckartigen Bewegungen machen und keinen Sturz hinlegen. Der ganze Rücken wurde genagelt. Aber ich komme jeden Tag kontinuierlich auf Arbeit und bin auch belastbar, also Arbeitsfähig. Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich ganz großes Glück hatte, dass ich wieder aufstehen konnte. Der Tag, als ich aus dem Krankenhaus rausgekommen bin, ist mein zweiter Geburtstag. Und meine Schulden bin ich angegangen. Im besten Falle kann ich in diesem Jahr noch meine Insolvenz anfangen. Dann bin ich in drei Jahren schuldenfrei und kann neu starten.
Jetzt bin ich rundum versorgt. Dieser Einstieg ins Wohnungsleben war wirklich angenehm. Und jetzt gehe ich es an, dass ich nächstes Jahr wieder ins richtige Arbeitsleben einsteige. Dass ich wieder ein angenehmes Gehalt auf dem Konto habe, von dem ich leben kann. Ich will wieder weg von diesen ganzen Sozialbezügen. Ich brauche auch körperlich etwas zu tun. Vom Rumsitzen gehe ich nur kaputt. Wenn ich in Bewegung bin, dann geht’s mir besser. Und das ist auch mein Ansporn.