Caritas aktuell: "Pflege verstehen"- das Interview des Monats
"Hätte ich doch früher die Entscheidung getroffen. Ich fühle mich hier so wohl und habe eigentlich zu lange gewartet." (Bewohnerin einer Caritas Pflegeeinrichtung)
Seit über einem Jahr gilt das Pflegestärkungsgesetz mit markigen Beschreibungen von häuslicher Pflege/ Ersatz- oder Verhinderungspflege/ Kurz- und Tagespflege. Sie verteilen dazu eine Infobroschüre. Sieht ein Normalbürger noch durch oder müssen wir alle Pflegeexperten werden?
G. Fürsich: Da ist was dran, dass man heute fast ein Pflegeexperte sein muss, um seine Möglichkeiten zu überblicken. Zunächst gilt, dass mit dem Pflegestärkungsgesetz die ambulante Betreuung gestärkt werden soll. So wurde der Grundsatz "ambulant vor stationär" neu mit Leben erfüllt. Gerade niederschwellige Angebote, z.B. ambulante Wohngruppen wurden dabei in Blick genommen. Durch das Gesetz entstehen nun neue Wohn- und Lebensformen. Diese sollen einen Heimaufenthalt vermeiden bzw. so lange wie möglich hinauszögern. Das ist insgesamt erfreulich, aber auf der anderen Seite geht die Übersichtlichkeit verloren.
Können Sie uns Beispiele nennen?
G. Fürsich: Beispiele neuer Wohnformen sind: "Betreutes Wohnen", "Altersgerechtes Wohnen", "Barrierefreies Wohnen" - da sind große Unterschiede. Aber es gibt auch "Betreute Wohngruppen", "Selbstverwaltete Wohngruppen", Trägerverantwortete Wohngruppen". Da ist Sprachverwirrung vorprogrammiert. Leuten, die über die Dinge berichten, fehlt oft die fachliche Sicht und Begriffe werden verwechselt.
Wer muss Interessierten die verschiedenen Angebote erklären?
G. Fürsich: Ich sehe - wie es auch das Gesetz vorsieht - vor allem die Kommunen in der Pflicht. Es geht um eine neutrale Beratung. Zum Teil machen auch die Krankenkassen Pflegeberatung. Natürlich spielt in den Krankenhäusern das neue Entlass-Managements eine Rolle und hat eine Steuerungsfunktion. Eine Pflegesituation entsteht oft spontan, wenn ältere Menschen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wir wollen als Caritas gemeinsam die Beratung stärker ausbauen mit dem Ziel, dass Menschen ihre letzte Lebensphase selbst aktiv planen und gestalten. Mir ist wichtig, dass es ein neutrales oder ein mit den verschiedenen Wohlfahrtverbänden gemeinsames Beratungsangebot gibt. Aus meiner Erfahrung kommt eine unabhängige Sicht gut an.
Sie sprechen von spontaner Pflegesituation?
G. Fürsich: Ja, denn viele Menschen beschäftigen sich erst mit dem Thema Pflege, wenn es akut wird. Wir machen die Erfahrung, dass man dieses Thema so lange wie möglich hinausschiebt. Wenn es dann soweit ist, z.B. durch einen Sturz, muss man handeln und dann ist es oft recht spät. Dies ist auch der Fall, wenn es um Vorsorgevollmachten geht. Damit sind Betroffene oft überfordert. In der Not sucht man schnell etwas - oftmals nicht das "Optimale" für den Pflegebedürftigen.
Was muss man wissen, wenn Eltern oder Angehörige pflegebedürftig werden?
G. Fürsich: Bei akuter Pflegebedürftigkeit ist es gut mit uns - oder einer Pflege-einrichtung - direkt Kontakt aufzunehmen. Wir haben z.B. in Weimar und Erfurt Mitarbeiter im Belegungsmanagement. Es ist zudem sinnvoll, mit der jeweiligen Pflegekasse das Gespräch zu suchen und sich beraten zu lassen. Umfangreiche Infos finden sich in einer Broschüre, die wir als Caritas gerade gemeinsam aufgelegt haben. Sie ist auch als PDF auf unserer Homepage (www.caritas-cte.de) abrufbar. Mein wichtigster Tipp: rechtzeitig handeln! Es ist gut mit den Angehörigen rechtzeitig verschiedene Pflege- und Betreuungsszenarien durchzugehen.
Wer ist für Betreuung und Pflege ansprechbar?
G. Fürsich: Zunächst muss man wissen, dass die meisten - weit über die Hälfte der Pflegebedürftigen - zu Hause von Angehörigen betreut werden. Wenn ein Pflegegrad durch die Pflegekasse oder den Medizinischen Dienst festgestellt wurde, kommt alle halbe Jahre jemand von einem Pflegedienst, der eine Beratung macht und die Betroffenen begleitet. Es gibt Kurse, bei denen Angehörige geschult werden. Sie bieten eine gute Grundlage. Wenn man später die Betreuung nicht mehr allein schafft, ist ein nächste Schritt die Tagesbetreuung. Das schafft Entlastung und gibt Freiräume für pflegende Angehörige. Ein Vorteil dieses Angebotes ist, dass bei Nutzung der Tagespflege keine Kürzung des Pflegegeldes erfolgt. Wir haben inzwischen in Rudol-stadt, Eisenach, Bad Langensalza und in Erfurt Tagespflege und planen jetzt in Nordhausen und Weimar weitere Einrichtungen.
Gibt es ein Zeitpunkt, an dem häusliche Pflege manchmal nicht mehr ausreicht?
G. Fürsich: Ein Kriterium dafür ist oft zunehmende Demenz bei Betroffenen. Wenn sie weit fortgeschritten und große Unruhe damit verbunden ist, kann eine Betreuung zu Hause oft nicht mehr möglich sein; es bleibt nur der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung. Oder nach Krankenhausaufhalten, wenn körperliche Einschränkungen stark zunehmen. Letztlich ist ein Pflegeheim eine gute und adäquate Form der Betreuung. Das schlechte Image der Heime ist falsch und ich halte es für fatal. Wir erleben, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen immer später eine stationäre Einrichtung in Betracht ziehen. Das beutet, dass die Verweildauer abnimmt und leider auch das Leben in den Häusern leidet.
Was sagen Sie zu der Aussage: Ich fühle mich schuldig, meine Eltern in ein Heim zu geben?
G. Fürsich: Ich kenne beide "Welten", sowohl die Situation zu Hause, aber auch in Heimen. Man muss ehrlich sagen, das schlechte Gewissen ist nachvollziehbar. Die Eltern haben sich jahrelang um mich gekümmert, ich will etwas zurückgeben. Aber auf der anderen Seite erlebe ich immer wieder, dass Menschen in unseren Einrichtungen wieder aufblühen. Sie leben zu Hause oft isoliert, sind abgeschnitten, kommen nicht mehr aus der Wohnung, soziale Kontakte sind selten. Daher ist unser Leitsatz "Wir öffnen Räume zum Leben", weil wir überzeugt sind, dass ein Altenheim wirklich ein guter Lebensraum ist. Dort können Kontakte geknüpft, Freundschaften geschlossen oder neu Aktivitäten anfangen. Von daher kann ich ein Pflegeheim als etwas sehr Positives sehen. Auch von Betroffenen und Angehörigen bekommen wir oft zu hören: "Hätte ich doch früher die Entscheidung getroffen. Ich fühle mich hier so wohl und habe eigentlich zu lange gewartet."
Warum ist gerade das Image der Altenpflege in der Öffentlichkeit so schlecht?
G. Fürsich: Leider gibt es Einrichtungen in Deutschland - wie überall - die wohl keine so gute Pflege und Betreuung machen. Das Benotungssystem durch den Medizinischen Dienst und die ständigen Prüfungen haben leider nicht dazu beigetragen, Vertrauen in die Einrichtungen zu fördern. Sicher ist es aber auch ein Problem, wenn ich als gesunder und junger Mensch in ein Altenheim gehe und sehe dort Menschen scheinbar gelangweilt "rumsitzen". Das hat etwas Bedrückendes und macht es manchem schwer ums Herz. Aber ein älterer Mensch hat einen anderen Tagesrhythmus und braucht nach einer Beschäftigung wieder Ruhezeiten ohne große Aktivitäten. Ich glaube, dass manche Menschen über Situationen vorschnell urteilen, die sie letztlich nicht gänzlich einschätzen können. Ich würde als alter Mensch auch nicht jeden Tag irgendwas tun wollen. Es kann auch Tage geben, wo ich sage, jetzt habe ich keine Lust! Das zu akzeptieren, gebietet der Respekt vor dem Willen des älteren Menschen.
Beachten Sie bei Neubauten die Wünsche alter Menschen, z.B. der kleine Sitzplatz im Eingangsbereich, um am Leben teilnehmen zu können?
G. Fürsich: Wir versuchen dies. Jedoch ist es heute schwierig mit allen brandschutz-technischen Vorgaben, an markanten Stellen entsprechende Ecken zu schaffen. Aber genau diese Ansätze gehören in unser Konzept. Man ist in den vergangenen Jahren davon ausgegangen, das Heim gehöre an den Rand der Stadt, wo es ruhig ist. Aber es ist umgekehrt. Die Menschen wollen etwas beobachten, am Alltag teilnehmen, mittendrin sein. Es ist ein Vorteil unserer Einrichtungen, dass wir mitten in den Orten sind. Bei uns spielt sich etwas ab. Ob in Weimar am Bahnhof oder hier in Erfurt mitten in der Innenstadt oder auch in Nordhausen, wo wir mitten in der Stadt ein neues Haus bauen. Wir werden ja auch älter, d.h. wenn die Mutter über neunzig ist, ist der Sohn meist auch über siebzig. Da ist eine gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein wichtiger Vorteil. Unsere Einrichtungen sollen Lebens- und Begegnungsorte sein. Daher siedeln wir dort z.B. Physiotherapien an, wir schauen, dass ein Friseur reinkommt. So können auch Vorurteile abgebaut werden.
Wie dramatisch ist die personelle Situation in Ihren Einrichtungen. Man liest, dass Heime aufgrund fehlender Fachkräfte einen Aufnahmestopp haben. Was tun Sie?
G. Fürsich: Die Situation hat sich in den letzten Jahren extrem verschärft. Uns fehlen vor allem Pflegefachkräfte. Ich sehe die Entwicklung mit sehr großer Sorge, gerade aufgrund des schlechten Images in der Pflege. Wir brauchen vor allem einen Imagewandel unter dem Motto "Pflege lohnt sich". Bei einer Mitarbeiterbefragung unserer 800 Beschäftigten ist im letzten Jahr herausgekommen, dass die meisten viel Freude in ihrem Beruf haben und ihre Arbeit gern machen. Ich sage unseren Mitarbeitenden immer, erzählt was ihr tut, dass ihr es gern macht und dass es erfüllend ist. Die Altenpflege hat so viele Vorteile: wir sind vor Ort und es ist ein sicherer Arbeitsplatz. Der Bedarf steigt. Diskussionen wie bei Siemens in Görlitz oder Erfurt wird es bei uns nicht geben, wir können unsere Arbeitsplätze nicht irgendwo hin verlagern. Pflege muss immer vor Ort sein, da wo Menschen leben, wollen sie auch gepflegt werden. Zudem entwickeln wir verschiedene Arbeitszeitmodelle und versuchen Mitarbeitern entgegen zu kommen. Daneben stellen wir auf ein neues Dokumentationssystem um, damit wir den "Schreibkram", der oft bemängelt wird, reduzieren. Wir tun also ganz viel, um die Situation in unseren Häusern zu verbessern. Wir beteiligen uns auch an dem Projekt - "Personalentwicklung mit Wirkung". Mit verschiedenen Leuten aus verschiedenen Sparten und Berufsgruppen, überlegen wir, was können wir tun, damit es unseren Mitarbeitern in unseren Einrichtungen besser geht und dass wir den Beruf noch attraktiver machen.
Und welche Rolle spielt die Bezahlung?
G. Fürsich: Zum Thema Bezahlung finde ich, dass Pflegekräfte im Vergleich zu anderen Branchen relativ gut bezahlt werden. Natürlich dürfte es immer ein wenig mehr sein. Auch in der erwähnten Mitarbeiterbefragung hat sich gezeigt, dass die Mitarbeitenden mit ihrer Bezahlung bei der Caritas nicht unzufrieden sind. Mit den Strukturen hingegen sind sie es oft, z.B. das der Pflegeschlüssel und andere Dinge schlecht sind. Das sind aber Themen, die die Politik gesetzlich regeln muss.
Ist trotzdem das Lohngefälle (Ost/West) ein Problem?
G. Fürsich: Ja, das ist ein Problem. Die Caritas ist aber dabei, dies in den nächsten Jahren anzugleichen. Wir werden erhebliche Lohnschritte haben, um die Angleichung der Löhne zu erzielen. Es ist aber auf der anderen Seite so, werden die Personalkosten teurer, werden auch die Heimkosten teurer. Das geht derzeit ausschließlich zu Lasten der Eigenanteile der Bewohner. Unsere Heime sind aber im Vergleich zu Bayern oder Baden-Württemberg um fast 1.000 Euro günstiger. Wir haben in Thüringen die billigsten Heimanbieter in ganz Deutschland. Das kann auf Dauer nicht so bleiben. Als Caritas in Thüringen waren wir in den letzten Jahren meist über dem vorgegebenen Personal-schlüssel. Das bedeutet, wir haben mehr gezahlt oder mehr Personal in den Einrichtungen vorgehalten wie wir eigentlich gesetzlich verpflichtet gewesen wären. Damit sind unsere Häuser aber auch immer die Teuersten am Ort. Wir bieten qualitäts-volle Pflege und wollen uns personalmäßig gut ausstatten. Das ist nicht umsonst zu haben! Gute Pflege hat ihren Preis und wir müssen uns als Gesellschaft insgesamt fragen, wie viel und diese gute Pflege wert ist.
Warum können Sie Personalkostenerhöhungen nur auf die Eigenanteile der Bewohner umlegen?
G. Fürsich: Das Problem ist einfach, weil der Beitrag der Pflegekassen gedeckelt ist. d.h. jede Erhöhung wird allein von dem Pflegebedürftigen getragen. Es gab vor kurzem im MDR ein Bericht, dass Heime privater Anbieter eine Erhöhung von 500 Euro pro Monat ankündigen. Da ist klar, dass die Leute in die "Schockstarre" verfallen, wenn sie das hören. Das kann auf Dauer auf keinen Fall so bleiben. Wir brauchen dringend eine Reform der Pflegeversicherung.
Die große Koalition will 8.000 neue Stellen im Pflegebereich. Ist dieses Versprechen ernst zu nehmen?
G. Fürsich: Ich finde der Ansatz ist ernst zu nehmen, weil diese 8.000 Stellen nicht von den Pflegekassen bezahlt werden, sondern von den Krankenkassen. Wenn jemand ins Heim geht, muss die Krankenkasse nichts mehr bezahlen. Solange er ambulant betreut wird und er bekommt die Insulinspritze und einen Verband, werden diese Leistungen mit der Krankenkasse abgerechnet. Ist er im Heim wird diese Leistung automatisch vom Heim erbracht und eigentlich über die Pflegekasse, wenn man es so sieht, abgerechnet. Jetzt hat man sich darauf geeinigt, dass die Kassen bundesweit 400 Millionen Zuschuss an die Heime geben. Der Ansatz, dass sich die Kassen auch an der Finanzierung der Pflege beteiligen, ist für mich der entscheidende Schritt in die richtige Ausrichtung. Natürlich sind 8.000 Stellen für 13.000 Heime mehr symbolisch zu sehen. Die Beteiligung der Krankenkassen an den Pflegeheimkosten finde ich aber einen guten Ansatz.
Die Fragen stellte Thomas Müller, Caritas Pressestelle Erfurt, April 2018
Kontakt zu Herrn Fürsich:
Gundekar Fürsich, Geschäftsführer
Caritas Trägergesellschaft "St. Elisabeth" gGmbH
Wilhelm-Külz-Str. 33, 99084 Erfurt
(Diensträume in der Walkmühlstr.1, 99084 Erfurt)
Tel: 0361/43021645
fuersich.g@caritas-cte.de
http: www.caritas-cte.de
Die Infobroschüre " Die Pflegeversicherung” - Infos und Adressen unter: www.caritas-bistum-erfurt.de/aufgabenfelder/alte-menschen/alte-menschen