Als Cornelia Prockl an einem grauen Morgen im Jahr 2015 zum ersten Mal die Türen der neu geöffneten Aufnahmeeinrichtung in Mühlhausen betrat, ahnte sie nicht, dass dieser Schritt ihr Leben verändern würde. "Ich habe mein klimatisiertes Büro gegen das Chaos getauscht", sagte sie später. Doch es war ein Chaos, das sich richtig anfühlte. Ein Chaos voller Menschen, voller Geschichten, voller Not - und voller Möglichkeiten zu helfen.
Cornelia Prockl
Vom Büro in die Begegnung
Cornelia war viele Jahre etwas anderes gewesen: Betriebswirtin. Kaufhausleiterin. Immobilienkauffrau. Sie hatte Entscheidungen getroffen, Zahlen sortiert, Abläufe geplant. Bis das Leben sie stoppte - ein Burnout, die schwere Krankheitspause, die Frage ihrer Therapeutin: "Was wollen Sie wirklich machen?"
Sie wusste es nicht sofort. Nur eines: Sie wollte wieder arbeiten, aber nicht mehr allein im Büro. Und vielleicht, sagte sie schließlich vorsichtig, könnte sie etwas Soziales machen.
Dann kam 2015.
Und plötzlich standen da hunderte Menschen in einer Turnhalle, mit Plastiktüten, müden Augen und Geschichten, die man kaum aushielt. Und Cornelia, deren erster Auftrag lautete: "Hier ist der Schlüssel. Du wirkst vertrauenswürdig. Mach mal."
Sie machte.
Erste Begegnungen - und die Erkenntnis, was Angst bedeutet
Sie lernte schnell, wie Fremdheit Angst auslöst - bei den Geflüchteten wie bei den Einheimischen. Sie sah jesidische Frauen, die vor Erschöpfung kaum stehen konnten, aber neben arabischen Familien nicht schlafen wollten - zu groß waren die Wunden ihrer Vergangenheit. Sie sah Kinder, die Toastbrot und Käse ablehnten, aber mit glänzenden Augen Nutella annahmen. Sie sah Chaos - aber sie sah auch Mut. "Es war nicht schlimm", sagt Cornelia heute. "Im Gegenteil. Es war lebendig. Ich konnte etwas bewegen."
In all dem hielt sie an einem Spruch fest, der sie bis heute trägt:
"Gott hält dich in seiner Hand, auch wenn die Welt Kopf steht."
(Sören Kahl)
Für viele, denen sie begegnete, galt dieser Satz noch mehr als für sie selbst.
Die Koordinatorin - Brücken zwischen Menschen
Bald holte die Caritas sie in die Ehrenamtskoordination. Sie sollte sortieren, strukturieren, verbinden. Zu Beginn waren es fünf Namen auf einer Liste. Bald wurden es 40, dann 60 Ehrenamtliche - Menschen, die helfen wollten, aber selbst Orientierung brauchten.
Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass nicht eine syrische Familie von zehn Helfern "bemuttert" wurde und die nächste ganz allein dastand. Sie musste erklären, dass Ehrenamt in manchen Kulturen unbekannt ist. Dass Helfende nicht Ersatzeltern sind. Dass Dankbarkeit nicht einklagbar ist. Und dass Integration nicht heißt, jemanden zu "umarmen, bis er nicht mehr atmen kann".
Sie organisierte Workshops, Dankeschönfeste, Sprachgruppen. Sie brachte ehemalige Grundschullehrer in Gemeinschaftsunterkünfte, damit Kinder wenigstens eine Art Schulunterricht bekamen, bevor sie offiziell zur Schule durften. Sie brachte Menschen zusammen, die vorher "Spinnefeind" gewesen waren - bis sie irgendwann gemeinsam Tee tranken.
Sie brachte Dinge ins Rollen.
Rückkehrberatung - die leisen Schicksale
Später wechselte Cornelia in die Rückkehrberatung der Caritas. Ein Bereich, den viele nicht kennen - und noch weniger verstehen. Hier kommen Menschen hin, deren Lebenspläne sich zerschlagen haben. Die müde geworden sind von Papieren, Verfahren, Hoffnungen. Die zurückwollen - oder müssen.
Cornelia begleitete Frauen, die Gewalt erlebt hatten. Männer, die von Landsleuten falsch beraten worden waren. Familien, die verzweifelt Dokumente suchten - im Schuhkarton, in alten Taschen, irgendwo zwischen zwei Welten. Und wenn dann nach Wochen der erlösende Pass gefunden wurde, war das wie ein kleines Wunder.
Sie erlebt Tränen, Erleichterung, Niederlagen, kleine Erfolge. Und immer wieder diesen Satz: "Danke. Du bist eine tolle Frau."
Doch Cornelia winkt dann ab. "Das ist nicht mein Erfolg", sagt sie.
Aber natürlich ist es auch ihrer.
Deutschland 2025 - eine andere Stimmung
Zehn Jahre ist Cornelia nun dabei. Die Welt hat sich verändert. Die Gesellschaft auch. Das Klima ist rauer geworden, die Diskussionen schärfer. Wo früher offene Türen waren, hängen heute oft Schilder: "Geschlossen" - politisch, gesellschaftlich, emotional.
Das macht sie traurig.
Nicht, weil alles perfekt war. Nicht, weil keine Fehler gemacht wurden. Sondern weil sie so viele Gesichter vor Augen hat. Männer und Frauen, die nach Deutschland kamen, voller Hoffnung - und die jetzt spüren, wie sehr sich die Stimmung gedreht hat. Kinder, die stolz erzählen: "Meine Mama lebt nicht mehr vom Bürgergeld!" - weil sie wissen, dass andere Kinder sie dafür verurteilen könnten.
Cornelia sieht vieles kritisch: die Bürokratie, die Überforderung, die falschen Erwartungen - auf beiden Seiten. Aber sie sieht auch, was möglich wäre. Wenn man wollte.
Ihr Wunsch - und ihr Vermächtnis
Wenn sie einen Wunsch frei hätte, sagt sie, dann diesen:
"Dass wir in Deutschland etwas mutiger werden. Weniger Angst vor Flexibilität haben. Weniger Bürokratie, mehr Menschlichkeit. Und dass wir Menschen mit Respekt begegnen - egal, woher sie kommen."
Zehn Jahre in der Flüchtlingsarbeit haben Cornelia verändert. Sie hat nicht nur beraten, organisiert, gehofft - sie hat begleitet, gesehen, verstanden. Sie hat Chaos ausgehalten und Hoffnung gemacht. Sie hat erlebt, wie Menschen scheitern, aber auch, wie sie wachsen.
Heute sagt sie: "Ich habe keinen einzigen Tag bereut."
Und man glaubt es ihr, weil in ihrer Stimme die Wärme liegt von jemandem, der nicht nur arbeitet - sondern wirkt. Weil ihre Geschichte eine der stillen Heldinnen ist, die man viel zu selten erzählt. Und weil sie zeigt, dass Menschlichkeit kein großes Konzept braucht.
Nur jemanden, der hinschaut.
So wie Cornelia.